Müssen Abiturienten 
sich vor Drucksachen bebeuysen?

Kommentar zum Kunst Abitur 2001
von Uli Schuster

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Abituraufgaben haben insbesondere im Fall eines Zentralabiturs in allen Fächern eine Leitfunktion. An ihnen überprüft der Lehrer seine Interpretation des Lehrplans, den Stand von Wissen und Fertigkeiten, die er seinen Schülern vermittelt hat. Im Fach Kunst trifft dies in besonderer Weise zu, weil hier kein Buch den Lehr- und Lernweg in seinen Schritten begleitet. 
Die Abiturprüfung 2001 brachte wie üblich zwei Aufgaben mit praktischem Schwerpunkt und zwei mit schriftlich-theoretischem Schwerpunkt, letztere überschrieben mit „Analyse und Interpretation“ (Aufgabe III) und mit „Vergleichende Analyse und Interpretation“ (Aufgabe IV). Zur Aufgabe III war eine Farbreproduktion aus den Stuttgarter Mappen (Band 45) eines Objekts von Joseph Beuys betitelt „Kreuzigung“ gegeben, sowie ein Zitat mit einem Statement des Künstlers zur Entwicklung des Christentums.
Weil das Objekt in der Fotografie sehr mittig frontal und etwa aus halber Höhe inszeniert ist, gab es außerdem einen Hinweis in der folgenden Form:
Was Sie auf der Abbildung nicht erkennen können: Auf den Flaschenverschlüssen liegen Zeitungsausschnitte, die ebenfalls mit Kreuzen übermalt sind. Auf dem linken ist u.a. zu lesen „Verlobung geben bekannt“, auf dem rechten „an seiner eigenen Schuld“, und „Welt“, „soziologisch“ und „böse sind“. 
Kein Hinweis erfolgte darauf, daß die Flaschen von der Rückseite her aus braunem Glas und ‚unbemalt‘ sind, oder etwa daß Flaschen dieser Art Behältern „gleichen“ die „als Blutkonserven verwendet“ würden (so Bier und Borst in den Stuttgarter Mappen).

Nach einer Schilderung „Erster Eindruck“ (6 von 60 BE) lautet die zweite Aufgabe:

„Bildnerische Analyse
a)    Detailstudien
Wählen Sie zwei klar voneinander unterscheidbare Details! Zeichnen Sie diese Einzelheiten leicht vergrößert in der Weise, daß deren Materialeigenschaften und Bearbeitungsspuren deutlich zum Ausdruck kommen!“
Als Unterrichtender im Fach Kunst darf man sich die Frage stellen, die schließlich auch ein Schüler des Leistungskurses erwägen muß, bevor er ans Werk geht, die Frage nämlich, welchen Sinn eine derartige Aufgabe machen könnte.

Man kennt hierzulande ähnliche Aufgaben zu Werken der Malerei (Aufgabe IV im selben Abitur; dort heißt es „2b Wählen Sie einen geeigneten Bereich aus jedem Bild und stellen Sie diese Ausschnitte vergrößert dar! Machen Sie darin Farbauftrag und Farbgebung sichtbar!“ an zwei Bildern von Matisse, eines davon eine Collage!)

Da es um das Abzeichnen einer fotografischen Reproduktion geht, auf der diverse, mit Farb- oder Gipsspritzern verdreckte Hölzer vernagelt, verkabelt und mit zwei Flaschen verklebt abgebildet sind, welche (offenbar nur auf einer Seite) mit einer weißlichen Spritzschicht überzogen scheinen, geht die Mutmaßung in eine relativ klare Richtung. Anhand der Abbildung des Beuys-Objekts soll eine Sachzeichnung gefertigt werden – Farbe ist nicht einmal ausdrücklich verlangt.  Man stelle sich also vor: Hunderte von Leistungskursschülern aus Bayern wetteifern an diesem Tag des zentralen Abiturs, dem Höhepunkt ihres schulkünstlerischen Daseins, um den Preis für diejenige Zeichnung, die ein Objekt von Beuys möglichst treffend in den Oberflächenqualitäten wiederzugeben vermag. Oberflächenqualitäten, die ihnen zum Teil Beuys eigenhändig verliehen haben mag, die zum Teil aber schlichtweg der Bauschutt verursacht haben wird, aus dem die Hölzer stammen, und die auf der Abbildung in jedem Fall ein Resultat einer zielgerichteten fotografischen Ausleuchtung sind. 
Sollen die Farbspuren an Flaschen oder Hölzern als ein malerischer Ausdruck innerer Erregung des Künstlers (etwa im Sinne eines Dripping von Jackson Pollock) beim Basteln erkannt werden oder als malerisch effektvoller Duktus mit der Absicht einer illusionistischen Wirkung im Sinn holländischer Stillebenmaler des 18. Jhs ins eigene Repertoire überführt werden (etwa mit dem Lernziel, die textile Qualität des armselig-rauhen und im Lauf von Jahrtausenden vom ultramarinen Blau ins Weißliche verblichenen Stoffs von Mariens Mantel vorzutäuschen).  Oder dient hier ein Werk von Beuys als Motiv für eine fotorealistische Etüde à la David Parrish mit dem Bleistift („sollen wir mit Raster Vergrößern und dürfen wir auch Buntstifte verwenden“)?
Der Schüler wählt also am besten eine Stelle aus, an der Kopfholz gesägt, Faserung freigelegt, Leisten mit Kabel umwickelt und Glas bekalkt zu sehen ist und ärgert sich darüber, daß dem Glas der Glanz und die Transparenz - also die fotorealistischen Highlights - genommen sind. Im zweiten Ausschnitt muß dann Längsholzmaserung, das vergilbte Zeitungspapier und der Plastik-Schraubverschluß der Flaschen vorkommen, damit alle Materialien mindestens einmal in der Zeichnung vertreten sind. „Leicht vergrößert“ soll die Darstellung sein, weil die 42,5 cm Höhe des Objekts im Druck auf ein etwas über DIN A4 großes Papier reduziert werden mußten. Der Schüler nähert sich also auf dem Weg der Vergrößerung rekonstruktiv an die Maße des Originals an.

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„b)   Studie(n) zur Komposition der „Kreuzigung“
Untersuchen Sie zeichnerisch den Gesamtaufbau der „Kreuzigung“! Klären Sie in mindestens einer Studie axiale Bezüge und die Zuordnung der einzelnen Körper im Raum!“ 
Für beide Aufgabenteile zusammen gibt es 20 BE, also ein Drittel der möglichen 60 BE Gesamtpunktzahl.
Der Schüler stellt also die geradezu autoritäre Frontalität und die strenge Achsensymmetrie des Objekts fest, die auch den Fotografen bereits so beeindruckt hat, daß er ihr nicht ausweichen konnte. Wenn er gut ist, kommt er vielleicht auf die Idee, sich das Objekt  im Grundriß vorzustellen. Die Kamera jedenfalls unterstellt einen Blick fast „Aug' in Aug‘“ mit den solchermaßen figürlich inszenierten Flaschen. Ist die fotografische Aufnahme Objekt der Analyse oder soll aus ihr das Beuys’sche Gebilde rekonstruiert werden, oder aber schließt das eine das andere mit ein. Interpretiert der Fotograf im Beuys’schen Sinn, gibt es also im klassischen Sinn eine Hauptansicht von der „Kreuzigung“ etwa vergleichbar mit der Hauptansicht der Laokoongruppe? Will Beuys nicht, daß wir das braune Glas der Flaschen von hinten sehen (wie man ja auch Theaterkulissen nicht von hinten bemalt) oder die Kreuze auf den ‚Doktorhüten‘ der Flaschen? Ist das Objekt etwa eine Plastik vom Typus Relief und gehört möglicherweise der tiefschwarze Hintergrund zum Objekt oder ist er die ironische Hinzufügung eines sozialdemokratischen Fotografen, der hier das Werk des 'Grünen' Beuys aus Rache für die roten Kreuze in einem christdemokratischen Sinn zurechtrücken will?

Wenn ein „klassisches Werk“ der Malerei auf Bildachsen hin untersucht wird, oder wenn ein ebensolches Werk etwa der figürlichen Plastik auf sein Achsen- und Bewegungsgerüst befragt wird, dann liegt für den Schüler darin insofern ein Sinn, als etwa achsiale Überlegungen auch in der „klassischen“ Malerei zum Entwurf einer Komposition gehörten, dem Modell einer plastischen Figur als konstruktives, statisch notwendiges Gerüst vorausgingen. Muß der Abiturient von einem Beuys’schen Objekt den Eindruck mitnehmen, daß die leichte Schieflage der beiden Flaschen aus der „Kreuzigung“ eine Intention von Beuys darstellt etwa in dem Sinn, daß die rechte Figur (im Sinn einer klassischen Kreuzigungsszene wäre das Johannes) angesichts des vom Schmerzensmann verlassenen Kreuzes einer Ohnmacht nahe ist <wie schreib' ich das bloß ins Evangelium?>, während die wackere und im Glauben unerschütterliche Maria sich noch gut in der Vertikalen hält, aber ihre leichte Neigung zum Holz hin als Geste des mütterlichen Mitleidens mit dem nicht vorhandenen Sohn komponiert wurde? Oder soll diese Schieflage gar nicht bemerkt werden, soll bei einer Suche nach Achsen der Schüler die „Vollkommenheit symmetrischer Ordnung“ als das unerschütterliche Zeugnis göttlichen Willens selbst in der Stunde seiner tiefsten Erniedrigung erspüren, oder gar in dem Objekt ein Beuys’sches Zeugnis kirchlicher  Weltsicht (katholischer oder evangelischer) lesen? 

Die Autoren Bier und Borst, die in den Stuttgarter Mappen das Werk beschreiben, wünschen sich eine Aufstellung in einer Kirche und bemühen einen Jesuiten um eine Interpretation nicht des Objekts, aber der Beuys’schen Sicht von Künstlertum und Kreativität, zu der der Mensch angeblich durch den Auferstandenen befreit wird. Ist etwa der Beuys’sche Satz nach dem ‚jeder Mensch ein Künstler‘ sei, so zu verstehen, daß erst der Auferstandene dieses Mysterium bewirkt hat, also der Kerngedanke der Eucharistie je schon die Idee von der sozialen Plastik war. Wird Joseph Beuys mit dieser Offenbarung etwa zum Johannes des 20. Jhs und erklärt dies irgendwie die festgestellte Schieflage?

Soll der bayerische Schüler bei der Untersuchung von Achsen am Beuys’schen Objekt die Entdeckung machen, daß der bei einer Kreuzigung zu vermutende horizontale Balken des Kreuzes vom Meister in genialer Absicht in die senkrechte gedreht und mit einem Elektrokabel zweifach vertikal an den Hauptmast gebunden wurde? Und welche Schlüsse soll er daraus ziehen? Ist "Kreuzigung" vielleicht ein Titel, der uns völlig in die Irre führt, sondern geht es bei dem in Weiß verkleideten Pärchen ("Verlobung geben bekannt") um ein Sinnbild des Sakraments der Ehe, für das sich auch die ungläubigsten Taufchristen, der würdevollen Zeremonie wegen, unters Holz des Gekreuzigten stellen, der seinerseits aus Gram darüber den ehedem geweihten Ort verlassen hat. Sind die beiden Flaschen, die von der Form her jede Unterscheidung in männlich und weiblich unmöglich machen, etwa gar in den Jahren 1962/63 eine  antizipatorische Ahnung, ein Vorgriff auf die gleichgeschlechtliche Ehegemeinschaft, die heute, nach 40 Jahren in Europa Wirklichkeit wird? Dann wäre die Schräglage der rechten Figur ein Taumeln vor Freude?

Die Analyse führt über eine Beschreibung zur Interpretation, für die es nur 12 BE zu gewinnen gibt. Bier und Borst schreiben dazu in den Stuttgarter Mappen:
Neue Deutungen und andere Sehweisen sind zulässig. 1970 äußerte Beuys, er halte Interpretationen eher für schädlich.“ 
Fügen wir unseren Schülern durch solche Abituraufgaben einen Schaden zu, oder nehmen die korrigierenden Lehrer Schaden? Kann letztlich das Objekt nicht interpretiert werden, sondern ist es lediglich Ausgangspunkt für allerlei Evokationen, stellt es eine Setzung dar, die erst durch die Sinngebung des subjektiven Geistes eines betrachtenden Abiturienten ihm zum Werk wird (dem einen zur Blasphemie, dem anderen zum Mandala, dem dritten zum Investitionsobjekt) – die ansonsten so leer ist, wie die Flaschen in dem Objekt mit dem Namen Kreuzigung?

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zweierlei handzeichen

ich bekreuzige mich
vor jeder Kirche
ich bezwetschkige mich
vor jedem obstgarten

wie ich ersteres tue
weiß jeder katholik
wie ich letzteres tue
ich allein

                ernst jandl