Luitpold-Gymnasium München                                                             Leistungskurs Kunsterziehung
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Die Plastik
Grundsätze zur figürlichen Plastik
von U. Schuster
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Vorspann
Zwei Mythen prägen unser Verständnis von Plastik ganz wesentlich. Beide haben sie zu tun mit unserer Vorstellung von Schöpfer, Geschöpf und Schöpfung. Zum einen enthält der biblische Mythos der Schöpfung (Moses, erstes Buch, 2/7) das Bild von einem Schöpfer, der einem Bildhauer gleich Körper aus Lehm formt oder aus einer Rippe schnitzt (Moses, erstes Buch, 2/21) und ihnen den Odem des Lebens durch einhauchen einer Seele spendet. Zum anderen kennen wir für denselben Vorgang die Erklärung, daß das Wort Gottes allein genügte um gleichsam aus der Idee und dem materiellen Nichts heraus die Welt zu erschaffen (Johannes Offenbarung). Haftet der traditionellen Vorstellung von der Plastik die Idee einer Formgebung von formloser Materie an, so hat sich im 20. Jh ein Verständnis von Plastik herausgebildet, das auf den materiellen Prozeß verzichten kann und den Kern der künstlerischen Schöpfung in einem geistigen Akt der 'Erweckung' sehen will. Marcel Duchamps "Ready Mades" und die aus diesem Geist entstandene Objektkunst verzichten ganz oder weitgehend auf materielle Eingriffe.

Im Übergang vom Jäger und Sammler, der mehr oder weniger von der Hand in den Mund lebt, zum seßhaften Bebauer des Bodens, entsteht mit der Vorratshaltung der Wunsch nach Gefäßen vielfältiger Art. In ihnen werden die lebensspendenden und das Überleben sichernden Lebensmittel aufbewahrt. Plastik hat auf diese elementare Art sehr viel mit Leben und Überleben zu tun. Die plastische Form scheint geeignet das Leben zu repräsentieren, dem lebensspendenden Geist ein Gehäuse für eine dauerhafte Existenz zu geben und gleichzeitig jedem Geist eine ihm entsprechende körperhafte Form. Vasen, Masken, Puppen transportieren auch heute noch diese magische Vorstellung, die mit dem Ursprung der Plastik verbunden ist. Das große Thema der Plastik jedoch ist die menschliche Figur.

Achsensysteme
Zwei elementar verschiedene Weisen der plastischen Formgebung sind aufgrund ihrer Technik zu unterscheiden. Die plastische Form kann gebildet werden durch Abtragen von Material (Steinmetzen und Holzbildhauer verfahren nach diesem Prinzip) oder durch Aufbauen von Material, wie dies beim Modellieren geschieht. Der Unterschied wird sichtbar am gestalteten Objekt. Jede dieser Herangehensweisen kennt ihre eigenen Gesetzlichkeiten und legt unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten nahe. Sehr deutlich wird das am Wechsel der plastischen Auffassung beim griechischen Standbild zwischen dem 6. und dem 5. Jh vor Chr. Das ältere, archaische Standbild war Resultat von Steinbildhauerei. Die Figur wurde aus dem Steinblock durch Abtragen von Material geformt. Der Block prägt der Figur Richtungen, Haltung und den beschränkten Grad von körperlicher Gliederung und freier Beweglichkeit auf. Man spricht vom Blockprinzip. Das Blockprinzip ist allerdings kein bloßes technisches Prinzip, es transportiert wie jede Technologie auch eine geistige Haltung gegenüber dem Leben und dem Zweck figürlicher Darstellung. Beim Roll-over wird das Achsensystem sichtbar.
Die Abb. zeigt den "Jüngling von Tenea", ein Standbild aus Marmor, um 560 v.Chr, aus der Glyptothek, München. Mit einer Größe von 1.53m ist er leicht unter lebensgroß dargestellt. Kein Bildnis, sondern eine Weihefigur.

Rundum Ansicht des Jüngling von Tenea (GIF Animation 1,7 MB)

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Das Blockprinzip in der Skulptur
Der Steinblock als Ausgangspunkt für den Bildhauer besitzt vier Hauptseiten, eine Ausrichtung der Figur auf die frontale Ansicht liegt in der Natur der Sache. Der Front untergeordnet sind die Profilansichten. Freie Beweglichkeit der Gliedmaßen, vom Körper abstehende Arme und frei stehende Beine bedeuten in der Steinbildhauerei ein hohes Risiko und stellen das spröde Material vor hohe Anforderungen an die Festigkeit. Den Block bearbeitet man am leichtesten von vorne nach hinten und von einer Profilseite zur anderen, indem man den Körperumriß durch Abtragen des Steins freilegt. Eine klare Konturierung der Figur hat hier ihren technischen Ursprung.

Die Abbildung zeigt den "Jüngling von New York", eine Statue aus Marmor, leicht überlebensgroß (1,93m) um 600 v.Chr, aus dem Metropolitan Museum New York

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Vorläufer
Die Rückseiten der blockhaften Standbilder bei den Ägyptern waren oft gar nicht oder nur dürftig plastisch bearbeitet. Eine Anbindung an die Wand einer Architektur lag nahe. Deshalb ist das Material im Schritt und der Rest des Blocks im Rücken bei ägyptischen Standbildern oft nicht vollständig entfernt. Im Gegensatz zur griechischen Archaik liegen die Arme noch eng und fest verbunden mit dem Körper an. Ansonsten ist hier bereits der Typus des blockhaften Standbilds, in seinen bis ins 6. Jh nahezu unveränderten Merkmalen, im wesentlichen ausgebildet.

Die Abbildung zeigt ein Bildnis des "Ranofer", eines Priesters um 2400 v. Chr in Lebensgröße (1.80m) aus bemaltem Kalkstein. Kairo, Ägyptisches Museum.

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Das Modell als Vorarbeit zum Guß
Beim Modellieren drängt sich eine andere Sicht von der Figur auf als wir sie bei der Skulptur kennengelernt haben. Figuren in der Größe eines Standbilds modelliert man über ein Gerüst, das dem menschlichen Bewegungsapparat in seinen festen Teilen, also dem Skelett nachempfunden ist.  Das 'Skelett' legt es nahe die Figur im Ausdruck einer Bewegung zu konzipieren. Arme und Beine sind jedenfalls zuerst einmal relativ frei beweglich. Über diese Armierung aus Draht wird die Modelliermasse aufgetragen. Das ganze System legt es dem "Formgeber" nahe, sich für den strukturellen Aufbau des Körpers aus Knochen, Muskeln und Haut, also für die Anatomie zu interessieren.

Die nebenstehende Abb. zeigt ein Wachsmodell eines "Merkur" von Rude (um 1827) aus dem Louvre. Bei Roll-over wird ein Röntgenbild sichtbar, auf dem die Armierung zu sehen ist. Höhe 25 cm

Mit der freien Beweglichkeit der Glieder entsteht das Problem der Ponderation, also der Verteilung und Balance der Gewichte. Die Möglichkeiten für unterschiedlichste Haltungen scheinen endlos, es entsteht die Frage nach einer guten Haltung, in der Kunstwissenschaft bekannt als Suche nach dem "fruchtbaren Moment". 

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Das System des Kontrapost
Die griechische Plastik des 5. Jhs entwickelt das System des Kontrapost (=Gegentück) als klassische Haltung für das Standbild. Kontrapost ist ein Wechselspiel von Lasten und Stützen, Anspannung und Entspannung, Heben und Senken, vorwärts schreiten und nach hinten absichern...
Zum ersten Mal findet sich dieses System an einer Skulptur(!), der des "Kritios-Knaben" um 480 v.Chr, von der leider nur ein Torso erhalten blieb. Polyklet hat um 440 v.Chr ein Standbild geschaffen, das ganzen Generationen von Bildhauern zum Vorbild diente und in jeder Kunstgeschichte zur Erklärung des Kontrapost herhalten muß, den Speerträger oder "Doryphoros". Leider ist auch diese Statue gar nicht erhalten und nur in Kopien überliefert, von denen die frühesten aus römischer Zeit stammen.
Bei Betrachtung der Körperachsen (Roll-over) fällt auf, daß die Körperteile nicht mehr an einer vertikalen Mittelachse aufgereiht sind, sondern der Kopf gegen den Brustkorb, dieser gegen das Becken, dieses gegen die Beine jeweils leicht gedreht und gewinkelt sind. Die Starrheit weicht aus diesem System und gibt einer Haltung Raum, in der wir die Idee einer belebten aber doch in sich ruhenden, edlen und freien menschlichen Haltung sehen können. Dem Klassizismus ist diese Idee zum Ideal geworden.

Rundum Ansicht des Doryphoros (Kopie aus der LMU München) GIF Anim 591 KB

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Mehransichtigkeit
Mit dem Achsensystem des Kontrapost verliert sich in der Plastik das gleichermaßen einfache wie starre, auf eine Front und zwei Profilansichten ausgerichtete Blockprinzip. Das System des Kontrapost muß sich beim Rundblick um das Standbild als ausgewogen erweisen. Zwar gibt es nach wie vor eine frontale Hauptansicht, aber die raumgreifende Bewegung der Figur erfährt erst ganz, wer die Figur umschreitet. Standbilder wie diese sind gern zentral aufgestellt. Nur wenige der griechischen Originale sind uns erhalten. Bronze war auch anderweitig gut zu brauchen und in Kriegszeiten ganz besonders. Auch maß man dem Original in der Antike noch wenig Bedeutung bei, insbesondere dann, wenn es - wie eine Gußplastik - prinzipiell in Serie reproduzierbar war.
Das nebenstehende Bild wird "Jüngling von Antikythera" genannt. Vermutlich hielt er einen Apfel in der Hand und gilt deshalb als eine Abbildung des Paris. Das Standbild ist dem Bildhauer Euphranor zugeschrieben und um 340 v.Chr datiert. Möglicherweise ist es einem römischen Raubzug zum Opfer gefallen und sollte nach Italien verschifft werden. Im Gegensatz zu den Räubern hat es am Meeresgrund bei Antikythera zusammen mit einem weiteren bronzenen Männerkopf überlebt.
Reproduktion von Plastik
Insbesondere die Römer zeigen sich äußerst erfinderisch und versiert beim Nachbilden der griechischen Bronzen im billigeren Stein, was zunächst einmal einige Technologie voraussetzt. Während die Blockhafte Plastik relativ einfach aus der Peilung entlang der Kontur von Frontalansicht und Profilansicht zu ermitteln ist, muß bei einem raumgreifenden Modell jeder Punkt nach drei Dimensionen bestimmt werden.
Die linke Abbildung zeigt in frontal- und Profilansicht eine unfertige knieende Figur, Kalkstein  (4. Jh v.Chr) aus der ägyptischen Sammlung München. Daneben ein Kupferstich aus dem 18. Jh, mit dem eine Vorgehensweise beim plastischen Kopieren veranschaulicht wird. Rechts das Modell, links der Rohling. Über beiden Figuren analog justiert eine Art Winkelmesser (Finitorium), mit dessen Hilfe sich einzelne Punkte bei beiden Figuren mit einem Senkblei analog ausloten lassen. Das schärft auch den Blick dafür, welche Punkte an der Plastik auf einer Linie liegen. Von diesen Loten aus kann man dann in die Tiefe messen und Abstände bis zur Oberfläche der Figur bestimmen. Dazu dient eine Art Lineal, die Exempeda. Ein drittes Messgerät, eine Art Schiebelehre (Norma), erlaubt es die Dicke bestimmter plastischer Teile zu bestimmen. Dieses oder ein ähnliches Verfahren werden die Römer angewendet haben.
Plastische Materialien
Eine Reihe von plastischen Materialien wurde hier angesprochen. Ton, Stein, Wachs, Bronze. Beispiele für Holzplastik fehlen auf dieser Seite. Robustheit des Materials und Bildsamkeit bestimmen den Materialeinsatz für bestimmte Zwecke. Wenn es schnell gehen soll, nimmt man leicht bildsame Materialien wie Wachs oder Ton. Tone sind plastisch formbare, knetbare bis gießbare Erden. Wenn sie wenig Sand enthalten erlauben sie das Abformen feinster Details. Durch Aufnahme von Wasser wird Ton formbar, beim Trocknen schrumpft er und wird bruchanfällig. Beim Brennen unter hohen Temperaturen (um 1000°) verfestigt er sich zu einem robusten und wasserfesten Gestein. Wenn ein Werk Jahrhunderte überdauern soll, scheint der Stein die besten Voraussetzungen zu bieten. Die Griechen und Römer fanden im Marmor ein Material mit einer milden Adrigkeit, "Marmorierung". Beim Holz ist es die feine und gleichmäßige Faserigkeit der Linde, die diesen Baum zum bevorzugten Material für größere Werke hat werden lassen. Bronze ist eine Legierung aus Kupfer, Zinn, weniger Zink und Blei. Auch hier sind es die besonderen Eigenschaften beim Gießen, Härten und kalt Bearbeiten, die dieses Metall zum bevorzugten Material für die Gußtechnik werden ließen.
Quellen
Eine ausgezeichnete italienische Quelle für Bildmaterial zur Plastik von der Romanik bis zum Barock und Beispiele aus der Moderne. Zahlreiche Plastiken sind in mehreren Ansichten dargestellt und in bildschirmfüllender Größe zu haben. 22 Einträge zu Bernini.
http://www.thais.it/scultura/default.htm