Kantenbildung

Kantenbildung tritt am Relief und insbesondere am plastischen Ornament deutlich in Erscheinung. In der Zeichnung taucht die Kante als Kontur / Binnenkontur auf. Was in der Plastik einen Richtungswechsel und damit verbunden einen Wechsel im Reflexionsverhalten einer Oberfläche bedeutet, das ist in der Zeichnung mit einer Kontur nur dürftig ausgedrückt. Schülern kann man das recht plausibel machen bei der Darstellung eines Quaders nach den Regeln der Parallelperspektive. Die drei sichtbaren Seitenflächen werden durch Kontur und Binnenkontur und die Winkelbildung der Linien optisch nur schwach voneinander unterschieden. Eine Tönung der Flächen in drei Stufen bringt hier größere Klarheit und Plastizität.


Gombrich liefert hierzu eine bedeutsame Erkenntnis. "...wie schon Hogarth betonte, zeigt ein Schatten nur dann eine Form an, wenn man weiß, von welcher Seite das Licht kommt. Wo wir es nicht wissen, raten wir eben. Die Psychologen haben festgestellt, daß wir Menschen aus dem westlichen Kulturkreis automatisch annehmen, das Licht komme von links oben, solange keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorhanden sind. Diese Beleuchtung ist am günstigsten für das Schreiben oder Malen mit der rechten Hand, und daher findet sie sich tatsächlich auf den meisten Bildern."
(Gombrich S. 297)

Der Autor liefert hierfür den Nachweis an einer H/D-Figur, die in richtiger Ansicht als Hohlform wahrgenommen wird, nach ihrem Verdrehen um 180° jedoch konvex erscheint. Die hier gezeigte Abbildung einer Schülerarbeit zeigt ein und dieselbe Zeichnung aber gedreht um 180°. Das Hirn braucht eine Weile um von einem Richtungsmodus auf den anderen umzuschalten.

Die Schüler fordern dazu meist eine Regel und es erscheint sinnvoll, diese zu geben. Bei einer Perspektive, die vom Quader die Vorderseite, den Deckel und die rechte Seitenfläche zeigt, ist ein Licht angebracht, das (vorne) links oben plaziert ist. Bezüglich der Helligkeitsverteilung ergibt das einen hellen Deckel, eine leicht getönte Vorderseite und eine abgedunkelte rechte Seitenfläche. Für das Füllen der Flächen gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, unter denen mir zwei besonders sinnvoll erscheinen: Schraffur und Lavis. Beim Lavieren mit verdünnter Beize empfiehlt es sich, die auszumalende Fläche vorher mit dem Pinsel zu feuchten und dann die Beize in einer Richtung gleichmäßig zu vertreiben. Abdunkelung erreicht man durch wiederholten Farbauftrag mit der gleichen Farbe. Die Kantenbildung erfolgt bei diesem Vorgehen wie in der ägyptischen Zeichnung erst durch Festlegung der Umrisse und dann durch Ausfüllen der Körperflächen mit Farbe.

Wer mit diesem Rezept an ein Stilleben aus Quadern nach der eigenen Beobachtung herangehen will, kann leicht feststellen, daß es vor der 'Natur' keinen Bestand hat, weil die Helldunkel - Verteilung selten so einfach ist, und vor allem, weil sich Kanten nach der Beobachtung kaum als Linien darbieten, sondern als Grenzen von Tonflächen gebildet werden.

Licht und Farbe bilden in der Malerei selten eine Einheit. Gotik und Renaissance unterscheiden zwischen der Funktion des Helldunkel als einem formgebenden Faktor und der Funktion der Farbe als Schmuck, Symbol- und Stimmungswert. Den deutlichsten Ausdruck findet diese Unterscheidung in der Schichtenmalerei, die im Tafelbild über die Renaissance hinaus Bestand hat. Rein gefühlsmäßig drängt sich mir der Verdacht auf, daß dieses Stadium in der Entwicklung des Helldunkel für das Jugendalter von Bedeutung sein könnte. Die Kunsterziehung hat dies allerdings wenig beeindruckt, weil sie lange Zeit unter den Prämissen des Expressionismus sich der 'Befreiung der Farbe' von der formgebenden Funktion verschrieben hat. Grisaille und Ton-in-Ton-Malerei haben in der Kunsterziehung bislang offenbar wenig Fürsprache gefunden.

"Die ersten Grisaillen der abendländischen Malerei sind wohl Giottos "Tugenden und Laster" in der Arenakapelle (grau in grau)." (W. Schöne S. 115) Schöne zählt hier eine ganze Ahnenreihe von Giotto über Vanni, Masaccio, Uccello, Mantegna, del Sarto im Süden und Campin, van Eyck im Norden auf, und er stellt den Zusammenhang her zwischen der Trennung von Farbe und Helldunkel in der Malerei und der Farblehre bei Alberti. "...Weiß und Schwarz sind für Alberti keine Farben."(Anm. S.116) Alberti löst sich hier von der Auffassung des Aristoteles und sieht die Aufgabe von Schwarz und Weiß darin "nicht als Farben, sondern als Ausdruckswerte von Licht und Schatten zu dienen."
(Schöne, Anm. S.117)

Abbildungen: Faltenwurf bei Villard de Honnecourt 13. Jh. (oben) und dem sog. "Spielkartenmeister", 15. Jh

Fotografie, Film, Drucktechnik, Videokamera, Bildschirm vermitteln uns tagtäglich die Trennbarkeit von Farbe und Helldunkel. Dieser Alltagserfahrung und Bildkonvention widerspricht in gewisser Weise eine malerische Tradition, die aus dem Impressionismus kommt, und den Versuch unternimmt, Licht und Schatten als Erscheinungsweisen der Farbe zu deuten. Der Farbfleck wird im impressionistischen Bild zu einer Lichtquelle.

"Die Farbe ist nicht mehr, wie in der gesamten abendländischen Malerei vom Mittelalter bis zum Impressionismus, eine Funktion des Lichts, - sondern umgekehrt: das Licht ist zu einer Funktion der Farbe geworden."
( Schöne, S.200)

Es scheint also, daß ein Teil der Malerei seit dem Impressionismus sich zunehmend auf die eine Sichtweise als die "künstlerische" versteift, Farbe und Licht aus der darstellenden Funktion entläßt, während ein anderer Teil beim Realismus bleibt und der Bereich der elektronischen, fotografischen und drucktechnischen Bilderzeugung im Dienst einer Darstellung der dinglichen Welt am Prinzip der Trennbarkeit von Farbe und Helldunkel festhält. Es liegt in der Konsequenz einer die Farbe befreienden Malerei, daß sie auf gegenständliche Darstellung verzichtet, weil die dingliche Welt das Licht braucht, um in Erscheinung zu treten.

"Unsere Wahrnehmung fester Körper ist ausschließlich Sache der Erfahrung. Wir sehen nichts als Farben in der Fläche. Und nur durch eine Reihe von Experimenten kommen wir darauf, daß ein schwarzer oder grauer Fleck die dunkle Seite eines festen Körpers ist oder daß eine schwache Färbung ein Anzeichen dafür ist, daß der betreffende Gegenstand weit weg ist."
(Ruskin, zitiert in Gombrich S. 325)

Dieses hier zum Ausdruck gebrachte Verständnis von Wahrnehmung kommt schon zum Ausdruck in der Constable zugeschriebenen Äußerung, man müsse sich in der Malerei befreien von allem, was man über Malerei wisse, und es kommt zum Ausdruck in der bewundernden Äußerung, die Cezanne über Monet gemacht haben soll. "Monet n'est qu'un oeil - mais quel oeil!".

Gombrich erteilt dem auch in die Theorie der Kunsterziehung eingegangenen Wunsch nach einem unbefangenen, reinen Sehen eine deutliche Absage:

"Niemals hat jemand je eine rein visuelle Sinnesempfindung gesehen, selbst die Impressionisten nicht, die sich die größte Mühe gaben, sie zu erhaschen."
(Gombrich S. 327)

Dabei geht es ihm um die Feststellung, daß unsere Wahrnehmung stets einen Weg sucht zwischen Erlerntem und Erlebtem, zwischen Konvention und eigener Erfahrung.

"...dieses Ideal der reinen voraussetzungslosen Beobachtung, das der Theorie der Induktion zugrunde lag, hat sich in der Wissenschaft ebenso wie in der bildenden Kunst als illusorisch erwiesen. Die moderne Wissenschaftslehre hat an der Idee, daß es möglich sei, unbeeinflußt von jeder Erwartungsvorstellung drauflos zu beobachten, scharfe Kritik geübt. Karl Popper betonte, daß wir nicht imstande sind unseren Geist gleichsam in ein unbeschriebenes Blatt zu verwandeln,"..."sondern daß jede Beobachtung eine Frage voraussetzt, die wir an die Natur richten, und daß jede solche Frage eine vorläufige Hypothese in sich schließt..."
(Gombrich S.353)

Wir müssen also im Unterricht eine Situation herbeiführen, wo gewisse Hypothesen auf ein Interesse der Schüler treffen und damit auf ihre Bereitschaft, sie auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen.



Kantenbildung und Kontrast

Schüler beginnen ihre gegenständlichen Zeichnungen in der Regel mit dem Festlegen von Kontur und Binnenkontur. Helldunkel tritt dann in Form mehr oder weniger kontrollierter Schraffuren hinzu. Wie oben bereits erwähnt, treten dabei Widersprüche auf, weil es im System des Helldunkel die Kontur als dunkle , freistehende Linie nur im Ausnahmefall gibt. Im Alter von 16 Jahren fällt dies nicht allen Jugendlichen als Problem auf. Einige sind daraufhin ansprechbar. Eine mit Körperschatten ausgestattete gegenständliche Zeichnung darf an der Kontur nicht einfach aufhören, sie muß den Körperumriß in Unterscheidung zum Umraum des Körpers definieren. Dadurch werden in der Regel Umrißlinien in die Schraffur einbezogen oder gehören plötzlich auch nicht mehr zum Objekt, sondern zu einem dunklen Hintergrund.

Wer mit dem Helldunkel konsequent in einem visuellen Sinn arbeitet, muß Schluß machen mit einer taktilen Vorstellung vom Umriß. Das ist erkenntnistheoretisch der entscheidende Schritt. Nach dem Gesichtspunkt des Helldunkel unterscheiden sich Figur und Grund nicht mehr durch tastbare Grenzen sondern allein durch sichtbare Kontraste, die letztlich durch Beleuchtung und Reflexion gebildet werden. Das Auge wird nun vom Wahrnehmenden nicht mehr als Ersatz des Tastsinns gebraucht, sondern muß abgekoppelt von der taktilen Erfahrung die Dingwelt auf ihr Reflexionsvermögen hin betrachten. Das kann man nicht einfach naturgegeben und lernt es auch nicht von heute auf morgen. Vielmehr bedarf es wie die perspektivische Darstellung einiger Übung. Das Medium Fotografie kann hier dem Gehirn die benötigte Hilfestellung geben und ihm sagen, was das Auge sieht:

Eine Konfiguration von mehr oder weniger kontrastierenden Flecken, die im Gehirn zu Formen zusammengefaßt und getrennt werden. Die Fotografie kann die Flecken trennen, indem sie die Kontraste verstärkt, die Farbe auf ihren Helldunkel - Anteil reduziert. Der Maler kneift in Ermangelung eines steuerbaren Kontrastreglers die Augen zusammen. Dabei reduziert er den von der Abbildung in Anspruch genommenen Bereich der Retina auf den Kernbereich um die Fovea, die Zone, in der die Zellen für die Helldunkel - Wahrnehmung, die Zapfen überwiegen.

Abbildungen: Die Zeichnungen stammen aus dem Oberstufenunterricht und übersetzen eine Aquatinta von Goya in lavierte Federzeichnungen

Um die dem alltäglichen Sehen verborgene Helligkeitsverteilung zu erfassen, "muß der Maler die Farben 'undinglich' sehen, er muß die Dinge 'auflösen'."
(Metzger S.317)

Das Sehen von Licht und Schatten braucht Hilfsmittel, wie der Stich von Veneziano "Akademia Bandinelli" zeigt. In Bezug auf die Helldunkel - Wahrnehmung muß man dem Gehirn erst einmal abgewöhnen, Farben zu sehen, der Bleistift wird zum Auge, das die Dunkelheiten erfaßt. Aber damit ist es nicht getan. Weiß, also Licht, darf nicht aus der Wahrnehmung ausgeklammert werden. Wer mit dem Bleistift die Dinge abtastet, sucht nur nach den Schatten. Die Schüler müssen aber lernen auch nach den Lichtern zu suchen. Im Rahmen der Zeichnung, wie der Malerei, leistet dies in erster Linie die 'Höhung'. Diese einfachste Form der 'Auflösung' trennt die Lichter von den Schatten und braucht dazu die Erfahrung, daß man Helligkeiten auch bezeichnen kann und muß. Es ist im Rahmen der "Tontrennung" eine ganz eigene Erfahrung, daß aus einer Konfiguration eigenartig geformter Flecken verschiedener Helligkeit vor unseren Augen Gebilde entstehen, in denen wir bekannte Dinge wiedererkennen, die wir so noch nie wahrgenommen haben. Die Tontrennung wird damit zu einer ganz elementaren Wahrnehmungsübung, die zum Linolschnitt, zur Plakatgestaltung, zur Spritztechnik, zum Siebdruck führen kann.